Allgemeines zum Straf- und Ermittlungsverfahren
Sobald die Kriminalpolizei oder die Staatsanwaltschaft zur Aufklärung eines Anfangsverdachts ermitteln, beginnt ein Strafverfahren (§ 1 Abs 2 der österreichischen Strafprozessordnung, im Folgenden „StPO“). Der Staatsanwaltschaft kommt im Ermittlungsverfahren eine Leitungsfunktion zu. Sie entscheidet, welche Ermittlungsmaßnahmen gesetzt werden und über die Fortführung oder über die Beendigung des Ermittlungsverfahrens. Der Staatsanwaltschaft entscheidet auch, ob nach Abschluss der Ermittlungen Anklage erhoben wird oder nicht.
Wesentlich zur Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens ist der sogenannte strafrechtliche „Anfangsverdacht“. Ein Anfangsverdacht liegt dann vor, wenn auf Grund bestimmter Anhaltspunkte angenommen werden kann, dass eine Straftat begangen worden ist (§ 1 Abs 3 StPO). Ein Anfangsverdacht kann beispielsweise auf einer Anzeige, Sachverhaltsdarstellung oder dienstlichen Wahrnehmung beruhen und setzt voraus, dass die derzeitige Sachlage eines Falles und bestimmte Anhaltspunkte auf eine verfolgbare Straftat hinweisen. Bloße Vermutungen, Spekulationen oder vage Hinweise reichen hingegen nicht aus, um einen Anfangsverdacht zu begründen.
Zweck des auf Basis eines Anfangsverdachts eingeleiteten Ermittlungsverfahrens ist es, den Sachverhalt und Tatverdacht durch Ermittlungen soweit zu klären, dass die Staatsanwaltschaft über Anklage, Rücktritt von der Verfolgung oder Einstellung des Verfahrens entscheiden kann und im Fall der Anklage eine zügige Durchführung der Hauptverhandlung ermöglicht wird.
Angezeigter, Verdächtiger und Beschuldigter
Von einem strafrechtlichen Vorwurf betroffene Personen können im Ermittlungsverfahren in drei Kategorien fallen: Angezeigte, Verdächtigte und Beschuldigte. Im weiteren Verlauf des Haupt- und Rechtsmittelverfahrens können aus diesen Personen auch Angeklagte bzw Verurteilte werden.
Wenn das Vorliegen eines Anfangsverdachts gegen eine bestimmte Person noch nicht abschließend geklärt ist und wenn gegen diese Person auch noch nicht ermittelt wird und demnach noch kein Strafverfahren anhängig ist, spricht man vom „Angezeigten“.
Demgegenüber ist ein Verdächtiger eine Person, gegen die auf Grund eines Anfangsverdachts ermittelt wird. Dem Verdächtigen kommen bereits die Beschuldigtenrechte nach der StPO zu, weshalb es schon in diesem Stadium eines Strafverfahrens sinnvoll ist, einen auf das Strafrecht spezialisierten Rechtsanwalt bzw Strafverteidiger zu konsultieren, um den bestmöglichen Schutz der Beschuldigtenrechte zu gewährleisten.
Beschuldigter ist jeder Verdächtige, sobald er auf Grund bestimmter Tatsachen konkret verdächtigt ist, eine strafbare Handlung begangen zu haben und zur Aufklärung dieses konkreten Tatverdachts Beweise gegen in aufgenommen oder Ermittlungsmaßnahmen angeordnet oder durchgeführt werden.
Ermittlungsmaßnahmen und Zwangsmittel im Ermittlungsverfahren
Das Ermittlungsverfahren ist durch eine Reihe von Ermittlungsmaßnahmen gekennzeichnet, die zur Aufklärung des Tatverdachts auch Zwangsmittel umfassen können. Zwangsmittel, die einer gerichtlichen Bewilligung oder Entscheidung bedürfen, sind von der Staatsanwaltschaft bei Gericht zu beantragen (§ 101 Abs 2 StPO).
Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit von Ermittlungsmaßnahmen
Bei jeder Ermittlungsmaßnahme müssen jedenfalls die folgenden Voraussetzungen vorliegen:
- Nur wenn eine Ermittlungshandlung im Gesetz vorgesehen ist, darf sie auch vorgenommen werden.
- Jede Ermittlungsmaßnahme muss verhältnismäßig sein, sodass jede dadurch bewirkte Rechtsgutbeeinträchtigung in einem angemessenen Verhältnis zum Gewicht der Straftat, zum Grad des Verdachts und zum angestrebten Erfolg stehen muss.
- Unter mehreren zielführenden Ermittlungshandlungen und Zwangsmaßnahmen haben die Strafverfolgungsbehörden jene zu ergreifen, welche die Rechte der Betroffenen am Geringsten beeinträchtigen. Sind also „gelindere Mittel“ möglich und zielführend, sind diese zu wählen.
In der Praxis der Strafverteidigung sind Fragen der Verhältnismäßigkeit von Ermittlungs- und Zwangsmaßnahmen besonders relevant. Bei Zweifelsfällen empfiehlt es sich, während dem Ermittlungsverfahren einen spezialisierten Rechtsanwalt beizuziehen, um die Sach- und Rechtslage prüfen zu lassen und gegebenenfalls einen Einspruch wegen Rechtsverletzung oder eine Beschwerde gegen die ergriffenen Maßnahmen einzubringen.
Häufige Ermittlungsmaßnahmen
Folgende Ermittlungsmaßnahmen finden vor allem in Wirtschaftsstrafverfahren im Zuge eines Ermittlungsverfahrens – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – häufig Anwendung:
- Vernehmungen von Beschuldigten und Zeugen,
- Sicherstellung, Beschlagnahme, Auskunft aus dem Kontenregister und Auskunft über Bankkonten und Bankgeschäfte (Kontoöffnung),
- Hausdurchsuchungen zur Erlangung von Beweismitteln,
- Beiziehung von Sachverständigen,
- Auskunft über Daten einer Nachrichtenübermittlung.
Nach einer Würdigung der Angaben von Zeugen und Beschuldigten und Auswertung der übrigen Beweisergebnisse entscheidet die Staatsanwaltschaft nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens, ob sie eine Anklage gegen den Beschuldigten einbringt, das Ermittlungsverfahren einstellt oder diversionell erledigt.
Dauer des Ermittlungsverfahrens
Ermittlungsverfahren dürfen nach § 108a Abs 1 StPO grundsätzlich nicht länger als drei Jahre dauern. Kann das Ermittlungsverfahren nicht vor Ablauf dieser dreijährigen Frist beendet werden, so hat die Staatsanwaltschaft das Gericht samt einer Stellungnahme über die Gründe für die Dauer des Ermittlungsverfahrens zu befassen. Das Gericht kann das Ermittlungsverfahren dann entweder einstellen oder es um zwei weitere Jahre verlängern. Diese Frist kann nach derzeitiger Rechtslage auch mehrmals verlängert werden, was insbesondere in Wirtschaftsstrafverfahren zu überlangem Verfahrensdauern führen kann.
Einstellung des Ermittlungsverfahrens
Die Staatsanwaltschaft hat das Ermittlungsverfahren von Amts wegen einzustellen, wenn auf Basis des hinreichend geklärten Sachverhalts feststeht, dass die dem Ermittlungsverfahren zugrunde liegende Tat nicht mit gerichtlicher Strafe bedroht ist oder sonst die weitere Verfolgung des Beschuldigten aus rechtlichen Gründen unzulässig wäre (rechtliche Einstellungsgründe nach § 190 Z 1 erster und zweiter Fall StPO).
Die Staatsanwaltschaft hat das Ermittlungsverfahren auch dann einzustellen, wenn kein tatsächlicher Grund zur weiteren Verfolgung des Beschuldigten besteht (tatsächliche Einstellungsgründe nach § 190 Z 2 StPO). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das Verfahren ergeben hat, dass der Tatvorwurf nicht zutrifft oder Beweisschwierigkeiten hinsichtlich des Schuldnachweises in objektiver oder subjektiver Hinsicht bestehen und dem Beschuldigten deshalb die Tatbegehung nicht mit der für das Strafverfahren erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden kann. Denn eine Anklage ist nur zu erheben, wenn aus Sicht der Staatsanwaltschaft eine Verurteilung des Beschuldigten „nahe liegt“ (§ 210 Abs 1 StPO).
Der Beschuldigte hat auch die Möglichkeit, aus Eigenem die Einstellung des Ermittlungsverfahrens bei der Staatsanwaltschaft zu beantragen und dadurch eine gerichtliche Entscheidung darüber zu erzwingen (§ 108 StPO). Da ein derartiger Antrag sowohl Vor- als auch Nachteile haben kann, sollte er nur nach einer entsprechenden Beratung durch einen Strafrechtsexperten eingebracht werden.
Exkurs: Anklage und Strafantrag
Wenn das Ermittlungsverfahren nicht eingestellt wird und auch nicht diversionell erledigt wird, bringt die Staatsanwaltschaft eine Anklage ein. Die Einbringung einer Anklage erfolgt bei natürlichen Personen entweder mittels Anklageschrift oder Strafantrag. Im Unternehmensstrafrecht gegen Verbände wird ein Antrag auf Verhängung einer Verbandsgeldbuße beim Gericht eingebracht.
Durch die Anklageerhebung beginnt das gerichtliche Hauptverfahren, dessen Leitung dem Strafgericht obliegt. Wird der Angeklagte nach Abschluss des Hauptverfahrens vom Strafgericht zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe verurteilt, wird er zum Verurteilen.
Strafverteidigung durch einen Rechtsanwalt im Ermittlungsverfahren
In keinem anderen Verfahrensstadium kann der Beschuldigte so aktiv am Strafverfahren mitwirken wie im Ermittlungsverfahren. Zum einen sollte sich der Beschuldigte möglichst frühzeitig von einem Verteidiger in der wichtigen Frage beraten lassen, wann und in welcher Form er sich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen äußern soll. Zum anderen kann er durch schriftliche Stellungnahmen und Beweisanträge aktiv am Verfahren mitwirken.
Zudem ist es oftmals sinnvoll, die Rechtslage, die möglichen nächsten Schritte und die bisherigen Ermittlungen von einem Rechtsanwalt überprüfen zu lassen. Ein Strafverteidiger kann sich in kurzer Zeit einen Überblick über das Ermittlungsverfahren verschaffen und durch rechtzeitiges, professionelles und präventives Krisenmanagement den Verlauf des Verfahrens nachhaltig mitgestalten. Darüber hinaus unterstützt ein auf Strafrecht spezialisierter Rechtsanwalt seinen Mandanten im Ermittlungsverfahren bei der Vorbereitung auf Vernehmungen, bei der Erstellung einer schriftlichen Stellungnahme und der Einbringung von Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen gegen Ermittlungsmaßnahmen.
Privatbeteiligung für Opfer
Wer durch eine Straftat einen Schaden erlitten hat oder sonst in seinen strafrechtlichen geschützten Rechtsgütern beeinträchtigt worden sein könnte, hat Opferstellung im Strafverfahren. Opfer können sich dem Strafverfahren im Zuge der Privatbeteiligung anschließen, um Ersatz für den erlittenen Schaden zu begehren.