Was bedeutet „Unschuldsvermutung“?
§ 8 StPO bestimmt: „Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.“ Dieser zentrale Grundsatz des österreichischen Strafprozessrechts ist zugleich in Art 6 Abs 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verfassungsrechtlich verankert. Der Nachweis der strafrechtlichen Schuld hat ausschließlich nach Durchführung eines gesetzmäßigen Verfahrens durch eine gerichtliche Entscheidung zu erfolgen. Die Unschuldsvermutung bildet einen Teil des Rechts auf ein faires Verfahren und soll verhindern, dass dieses durch verfrühte Feststellungen untergraben wird.
Die Unschuldsvermutung gilt bis zur rechtskräftigen Verurteilung. Eine solche liegt vor, wenn ein Strafgericht den Angeklagten verurteilt und gegen diese Entscheidung kein ordentliches Rechtsmittel – Berufung oder Nichtigkeitsbeschwerde – mehr zulässig ist.
Bei Verletzungen der Unschuldsvermutung in einem Medium steht dem Betroffenen bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen ein Entschädigungsanspruch zu (§ 7b MedienG).
Auswirkungen in der Praxis
Im gesamten Handeln der Strafverfolgungsbehörden – von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens bis zur Rechtskraft der Entscheidung – ist der Grundsatz der Unschuldsvermutung einzuhalten. Bereits im Ermittlungsverfahren sind Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei verpflichtet, diesen Grundsatz in jeder Phase und bei jeder Maßnahme zu beachten. Zwangsmaßnahmen, insbesondere die Untersuchungshaft, dürfen keine vorwegnehmende Strafwirkung (sogenannte Strafantizipatio) entfalten. Nach § 173 Abs 1 StPO darf Untersuchungshaft nur angeordnet oder fortgesetzt werden, wenn sie zur Bedeutung der Sache und zur zu erwartenden Strafe in einem angemessenen Verhältnis steht.
Die Unschuldsvermutung verpflichtet auch Richter zur Objektivität und Wahrheitserforschung (§ 3 Abs 2 StPO). Sie dürfen ihre Tätigkeit nicht mit der vorgefassten Meinung ausüben, der Angeklagte habe die ihm vorgeworfenen Taten begangen.
Weitere Ausprägungen der Unschuldsvermutung:
- In der gerichtlichen Hauptverhandlung nach Anklageerhebung trifft im Beweisverfahren die Staatsanwaltschaft die Beweislast für sämtliche Tatvorwürfe und deren Elemente. Jeder Zweifel wirkt zugunsten des Angeklagten (Grundsatz: in dubio pro reo). Gelingt der Schuldnachweis nicht, darf keine Verurteilung erfolgen. Das Gericht muss während der gesamten Verhandlung unvoreingenommen an einen Fall herangehen und darf nicht mit der Überzeugung agieren, dass der Angeklagte die ihm zur Last gelegte Tat begangen hat. Dementsprechend ist auch eine sogenannte vorgreifende Beweiswürdigung unzulässig. Ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung liegt beispielsweise vor, wenn das Gericht einen Beweisantrag des Beschuldigten mit der Begründung ablehnt, das bisherige Hauptverfahren habe bereits ergeben, dass der Angeklagte die Tat begangen habe.
- Bei einem diversionellen Vorgehen hat eine Feststellung eines tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und schuldhaften Handelns des Beschuldigten zu unterbleiben. Die Verhängung einer Diversion impliziert demnach auch keine Schuldfeststellung. Es gilt weiterhin die Unschuldsvermutung.
- Der Grundsatz gilt zudem für bedingte Strafnachsichten und Entlassungen: Ein Widerruf darf nicht auf den bloßen Verdacht einer neuen Tat während der Bewährungszeit gestützt werden, solange keine rechtskräftige Verurteilung vorliegt.
Schließlich ist klarzustellen, dass die Unschuldsvermutung ausschließlich im Strafverfahren gilt. Auf zivilrechtliche Verfahren findet sie keine Anwendung – daher ist es zulässig, dass zivilrechtliche Schadenersatzansprüche auch gegen strafrechtlich Freigesprochene zugesprochen werden.
Was vesteht man unter dem Recht auf Verteidigung?
Gemäß § 7 StPO hat der Beschuldigte einerseits das Recht, sich selbst zu verteidigen und in jeder Lage des Verfahrens den Beistand eines Verteidigers in Anspruch zu nehmen (§ 7 Abs 1 StPO). Andererseits darf er nicht gezwungen werden, sich selbst zu belasten. Er kann jederzeit frei entscheiden, ob er aussagt oder die Aussage verweigert. Zwangsmittel, Drohungen, Versprechungen oder Täuschungen dürfen dabei nicht angewendet werden (§ 7 Abs 2 StPO).
Dieser wesentliche Grundsatz des österreichischen Strafverfahrens ist auch verfassungsrechtlich in Art 6 Abs 3 EMRK abgesichert. Die in § 7 Abs 2 StPO verankerte Freiheit, sich nicht selbst belasten zu müssen, bildet den Grundsatz des Selbstbelastungsverbots („nemo tenetur se ipsum accusare“), den alle Strafverfolgungsbehörden berücksichtigen müssen. Der Verfassungsgerichtshof leitet ihn zudem aus Art 90 Abs 2 B-VG ab, der die Trennung von Ankläger und Richter (Anklagegrundsatz) vorsieht.
Auswirkungen in der Praxis
Die in § 7 StPO festgelegten Grundsätze zum Recht auf Verteidigung werden beispielsweise durch folgende weitere Regelungen in der österreichischen Strafprozessordnung konkretisiert:
- Verständigung eines Strafverteidigers: Das Recht, einen Strafverteidiger beizuziehen, ist dem Beschuldigten in jeder Lage des Strafverfahrens einzuräumen. Bei Festnahme, Vorführung oder Einlieferung in eine Justizanstalt muss dem Beschuldigten Gelegenheit gegeben werden, einen Verteidiger zu verständigen, beizuziehen und zu bevollmächtigen (§ 59 Abs 1 StPO). Er darf sich dabei unüberwacht mit seinem Verteidiger austauschen (§ 59 Abs 3 StPO).
- Verfahrenshilfeverteidiger: Ist der Beschuldigte finanziell nicht in der Lage, die Verteidigungskosten zu tragen, kann das Gericht gemäß § 61 Abs 2 StPO von Amts wegen oder auf Antrag einen Verteidiger bestellen, sofern dies im Interesse der Rechtspflege und einer sachgerechten Verteidigung erforderlich ist.
- Beschuldigtenvernehmung:
- Vor jeder Vernehmung ist der Beschuldigte zwingend darüber zu belehren, dass er sich zur Sache äußern oder die Aussage verweigern kann, sich vorab mit einem Verteidiger beraten darf und seine Aussage sowohl seiner Verteidigung als auch als Beweis gegen ihn dienen kann (§ 164 Abs 1 StPO).
- Besteht der Beschuldigte auf die Beiziehung eines Verteidigers, ist dessen Eintreffen abzuwarten; dieses Recht darf nur in Ausnahmefällen eingeschränkt werden. Der Verteidiger darf nach Abschluss der Vernehmung oder einzelner Abschnitte Fragen stellen und Erklärungen abgeben (§ 164 Abs 2 StPO).
- Ein weiterer Ausfluss des Grundsatzes des Rechts auf Verteidigung besteht in dem Recht des Beschuldigten, sich in einer zusammenhängenden mündlichen Darstellung oder mittels schriftlicher Stellungnahme zu den Vorwürfen zu äußern (§ 164 Abs 3 StPO). Dem Recht auf Einbringung einer schriftlichen Stellungnahme kommt in der Verteidigungspraxis erhebliche Bedeutung zu und eine anwaltliche Unterstützung bei Ausarbeitung einer solchen Stellungnahme ist empfehlenswert.
- Zwang, (explizite oder konkludente) Drohungen, Versprechungen oder Vorspiegelungen zur Aussageerzwingung des Beschuldigten sind unzulässig. Hier spielen vor allem Eingriffe in die körperliche Integrität (etwa durch die Anwendung von Körperkraft, aber auch technische Hilfsmittel, wie zB Einsatzstöcke) eine Rolle (§ 164 Abs 4 StPO).
- Außerdem müssen gestellte Fragen deutlich, klar verständlich sein und dürfen nicht unbestimmt, mehrdeutig oder verfänglich sein. Fragen, mit denen Tatumstände vorgehalten werden, die erst durch die Antwort festgestellt werden sollen (Suggestivfragen), dürfen nur dann gestellt werden, wenn dies zum Verständnis des Zusammenhanges erforderlich ist. Diese sind wörtlich zu protokollieren. Unzulässige Fangfragen bilden jene Fragen, mittels denen eine vom Beschuldigten nicht zugestandene Tatsache als bereits zugestanden angenommen wird (§ 164 Abs 4 StPO).
Die zentrale Rolle des Strafverteidigers im Schutz dieser Grundsätze
Ein Strafverteidiger spielt im Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung und dem Recht auf Verteidigung eine zentrale Rolle, da er sicherstellt, dass diese Grundsätze in der Praxis tatsächlich gewahrt bleiben. Er schützt die Beschuldigtenrechte gegenüber den staatlichen Strafverfolgungsbehörden, achtet darauf, dass das Verfahren fair geführt wird, und verhindert, dass Vorverurteilungen oder Ermittlungsmaßnahmen die Unschuldsvermutung und das Recht auf Verteidigung untergraben. Durch seine fachliche Kompetenz und Erfahrung sorgt ein auf Strafrecht spezialisierter Rechtsanwalt dafür, dass die Interessen des Beschuldigten bestmöglich vertreten werden. Zudem bringt ein Strafverteidiger auch die notwendige Kompetenz mit, um im Fall der Verletzung dieser beiden Grundsätze den entsprechenden Rechtsschutz zu wahren – sei es im Ermittlungsverfahren oder durch Erhebung von Rechtsmitteln nach einer Hauptverhandlung.